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Rechtsruck

Wie Călin Georgescu die Wahlen in Rumänien aufmischte

03.12.2024

Mit massiver TikTok-Präsenz und antiwestlicher Rhetorik hat der prorussische Rechtsextremist Călin Georgescu die erste Runde der Präsidentschaftswahlen in Rumänien gewonnen. Osteuropa-Historiker und ÖAW-Mitglied Oliver Jens Schmitt erklärt, wie es zu diesem Erfolg kam und was Rumänien und Europa droht.

Nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen herrscht Chaos in der politischen Landschaft Rumäniens. „Georgescu kanalisiert die weitverbreitete Unzufriedenheit über Korruption und Misswirtschaft im Land“, sagt ÖAW-Experte Oliver Jens Schmitt. © AdobeStock

Rumänien steht vor einer politischen Zäsur: Mit Călin Georgescu hat ein Kandidat die erste Runde der Präsidentschaftswahlen gewonnen, der nicht nur den Austritt aus EU und NATO propagiert, sondern auch rechtsextreme Ideologien und Faschisten verherrlicht. Sein plötzlicher Aufstieg hinterlässt eine tief gespaltene Gesellschaft, in der das Vertrauen in staatliche Institutionen auf einem Tiefpunkt angelangt ist.

Der überraschende Wahlerfolg wirft viele Fragen auf: Wie konnte ein politischer Außenseiter eine so große Anhängerschaft mobilisieren? Welche Rolle spielten gezielte Social-Media-Kampagnen? Und steckt der Kreml hinter dem politischen Umbruch? Oliver Jens Schmitt, Historiker und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), analysiert die Mechanismen hinter Georgescus Aufstieg und warnt vor den möglichen Folgen für Rumänien und Europa.

Mit TikTok-Hilfe zum Wahlsieg

Wie ist es Călin Georgescu gelungen, beim ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen in Rumänien den ersten Platz zu erreichen?

Oliver Jens Schmitt: Die Antwort darauf ist äußerst komplex. Was zunächst auffällt, ist, dass in den zwei Wochen vor der Wahl eine massive TikTok-Kampagne zu seinen Gunsten lief. Offenbar wurde TikTok dafür bezahlt, die Sichtbarkeit anderer Kandidat:innen zu reduzieren. Der Erfolg von Georgescu ist jedoch nicht allein auf diese kurzfristige Kampagne zurückzuführen. Seit Jahren agiert er unter dem Radar der medienpolitischen, vor allem auf die Hauptstadt konzentrierten Öffentlichkeit. Er hat sich durch soziale Medien wie YouTube, zahlreiche Vorträge und Reden im ländlichen Raum sowie Propaganda bei marginalisierten Gruppen – etwa unter Neo-Protestant:innen – einen Namen gemacht. In antiwestlichen Kreisen der orthodoxen Kirche ist er bereits seit längerem eine bekannte Figur. Die politischen Eliten haben ihn jedenfalls unterschätzt.

Die politischen Eliten Rumäniens haben Georgescu unterschätzt.

Hinzu kommt, dass in den letzten paar Wochen prowestliche investigative Journalist:innen große Skandale an den Tag befördert haben. In einer auf YouTube millionenfach gesehenen Reportage wird dem scheidenden Präsidenten Klaus Johannis vorgeworfen, das Land mithilfe der Geheimdienste zu steuern. Dies verstärkte das Misstrauen gegenüber den Institutionen in einem Land, in dem Verschwörungstheorien ohnehin weit verbreitet sind.

Enge Russland-Kontakte und manipulierte Wahlen

Georgescu wird als prorussischer Rechtsextremist beschrieben. Welche Inhalte verbreitet er?

Schmitt: Georgescu kanalisiert die weitverbreitete Unzufriedenheit über Korruption und Misswirtschaft, die etwa 20 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung zur Auswanderung gezwungen hat. Er bedient gezielt antiwestliche Vorurteile, hat offen angekündigt, das Land aus EU und NATO herauszuführen. Er bewundert Wladimir Putin, verherrlicht Verbrecher der Shoa und prominente Faschisten des Zweiten Weltkriegs. Und er hat von Donald Trump inspirierte Wahlkampfmethoden übernommen.

Georgescu hat von Donald Trump inspirierte Wahlkampfmethoden übernommen.

Einige vermuten, dass Georgescus überraschender Erfolg eine vom Kreml unterstützte Kampagne ist, um das bislang prowestliche Rumänien zu destabilisieren. Was steckt hinter diesem Verdacht?

Schmitt: Auch seriöse Medien gehen davon aus, dass Georgescu ein sogenannter russischer Schläfer sei. Es wird allerdings sehr schwierig sein, konkrete Beweise vorzulegen. Angeblich gehört er einer Zelle des Auslandsgeheimdienstes an, die bereits vor 1989 enge Kontakte zur damaligen Sowjetunion gepflegt hatte und nach der Annexion der Krim 2014 reaktiviert wurde.

Der Nationale Sicherheitsrat Rumäniens tagte vor Kurzem und erklärte in verklausulierter Form, die Wahl sei massiv von außen manipuliert worden – diese Einschätzung beruht offenbar auf Geheimdienstinformationen der NATO. Die Wahl wurde angefochten, und das Verfassungsgericht hat eine Nachzählung angeordnet. Diese Entscheidung wird von vielen Beobachter:innen als gefährlich betrachtet, da sich die zwei Millionen Wähler:innen von Georgescu ausgeschlossen fühlen könnten. Im schlimmsten Fall droht Rumänien eine Phase des Chaos und innerer Unruhen.

Versagen der Institutionen

Wie bewerten Sie die Proteste, die unmittelbar nach den Wahlen in verschiedenen Städten stattgefunden haben?

Schmitt: Die Proteste sind bislang eher klein und umfassen meist nur einige hundert Personen, vor allem Studierende. Viele Debatten spielen sich im virtuellen Raum ab. Dennoch ist die Angst in der Bevölkerung greifbar. Viele Menschen in Rumänien fürchten, dass Russland nicht durch eine Invasion, sondern durch gleichsam von innen heraus die Kontrolle über das Land erlangen könnte. Dieses Gefühl wird durch den Eindruck eines multiplen institutionellen Versagens verstärkt: Die Anführer der beiden größten Parteien sind zurückgetreten, und die mächtigen Geheimdienste scheinen entweder versagt oder die Manipulation geduldet zu haben. Das Vertrauen in die Institutionen ist durch die unsichere Stimmenauszählung praktisch auf null gesunken. In Rumänien herrscht ein Gefühl der Desorientierung – ein „Realitätsverlust“, wie manche es nennen. Es ist eine schwere Krise, die fast punktgenau 35 Jahre nach dem Sturz von Diktator Nicolae Ceaușescu eintritt, dessen Umstände bis heute nicht restlos geklärt sind.

Seriöse Medien gehen davon aus, dass Georgescu ein sogenannter russischer Schläfer sei.

Was würde es für Rumänien bedeuten, wenn Călin Georgescu am 8. Dezember tatsächlich zum Präsidenten gewählt werden würde?

Schmitt: Sollte Georgescu tatsächlich Präsident werden, hätte dies fatale Folgen für Rumänien. Mittelfristig könnte Rumänien zu einem zweiten Belarus werden – zu einem russischen Vasallenstaat. Für die EU und NATO wären die Auswirkungen verheerend. Georgescus Politik würde nicht nur die innere Stabilität Rumäniens gefährden, sondern auch eine weitere massive Abwanderung der Bevölkerung auslösen. Das würde auch Österreich betreffen. Schon jetzt stellen Rumän:innen die zweitgrößte Einwanderergruppe in Österreich dar.

Die Blockade Rumäniens im Schengen-Prozess durch Österreich hat bei Millionen Rumän:innen ein Gefühl der Demütigung erzeugt.

Apropos Österreich. Inwiefern spielt Österreich eine Rolle beim Erfolg dieses Rechtsextremisten?

Schmitt: Österreich hat indirekt zum Erfolg des Putinisten beigetragen. Die Blockade Rumäniens im Schengen-Prozess durch Österreich hat bei Millionen Rumän:innen ein Gefühl der Demütigung erzeugt. Besonders für die große Diaspora, die ständig mit Reiseeinschränkungen konfrontiert ist, hat dies antiwestliche und Anti-EU-Stimmungen befeuert. Zudem sind österreichische Unternehmen, insbesondere in der Holzindustrie, in Rumänien in Skandale um illegale Abholzungen verwickelt. Der Satz „Die Österreicher stehlen uns die Wälder“ mobilisiert viele Menschen in Rumänien. Es zeigt auch, wie wenig in Österreich und Europa über politische und kulturelle Mechanismen in Rumänien bekannt ist.

 

Auf einen Blick

Oliver Jens Schmitt ist Professor für Geschichte Südosteuropas an der Universität Wien und wissenschaftlicher Direktor des Forschungsbereichs Balkanforschung am Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Er ist Mitglied der ÖAW und war bis 2022 Präsident der philosophisch-historischen Klasse der Akademie. Aktuell ist Schmitt einer der Leiter des vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Exzellenzclusters „Eurasian Transformations“.