Autobahn nahe der niederländischen Gemeinde Cranendonck. (Bild: Imago)

Autobahn nahe der niederländischen Gemeinde Cranendonck. (Bild: Imago)

Stickstoff-Krise: In den Niederlanden müssen Autos langsamer fahren, damit blockierte Bauprojekte wieder aufgenommen werden können

Die Stickstoffemissionen in den Niederlanden verstossen gegen EU-Recht. Deshalb wurden Tausende Bauvorhaben sistiert. Um sie wieder aufnehmen zu können, will Ministerpräsident Mark Rutte die Höchstgeschwindigkeit auf den Autobahnen verringern und die Kühe auf Diät setzen.

Christoph G. Schmutz, Brüssel
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In den Niederlanden gilt vielerorts auf den Autobahnen bereits eine Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h, und bald soll diese Grenze aus Umweltgründen tagsüber auf dem gesamten Strassennetz gelten. Das gab die niederländische Regierung um Ministerpräsident Mark Rutte am Mittwoch in Den Haag bekannt. Demnach darf die bisherige Maximalgeschwindigkeit von 120 oder 130 km/h auf den betroffenen Abschnitten nur noch zwischen 19 Uhr und 6 Uhr gefahren werden.

Die neue Regel ist Teil eines Massnahmenpaketes, um den Stickstoffausstoss zu verringern. Es tritt in Kraft, sobald das Parlament die entsprechende Notstandsgesetzgebung («Aanpak Stikstof») gutgeheissen hat. Das geht aus einem Schreiben hervor, das das Ministerium für Landwirtschaft, Natur und Lebensmittelqualität am Mittwoch dem Vorsitzenden des Parlaments hat zukommen lassen. Es könne in diesem schwierigen Dossier keine Tabus geben, kommentierte Rutte auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Niemand möge Einschnitte, aber es gehe um höhere Interessen. Neben der Umweltbelastung stehen laut der niederländischen Regierung nämlich auch Arbeitsplätze auf dem Spiel.

Gericht stoppt laxe Bewilligungspraxis

Ausgangspunkt dieser Entwicklung war ein Urteil des höchsten Verwaltungsgerichts der Niederlande am 29. Mai. Der Raad van State entschied, dass die Behörden künftig Baubewilligungen für Projekte mit negativer Auswirkung bezüglich Stickstoffausstoss in der Nähe von Naturschutzgebieten nicht mehr so einfach wie bisher genehmigen dürfen. Das 2015 lancierte «Programma Aanpak Stikstof» (PAS) ist laut dem Europäischen Gerichtshof nämlich nicht vereinbar mit EU-Recht. Das PAS erlaubte die Überschreitung der Grenzwerte, wenn dafür Kompensationsmassnahmen in der Zukunft vorgesehen wurden.

Das war nach dem EuGH-Urteil im November 2018 nicht mehr möglich, und rund 18 000 Bauprojekte wurden deshalb sistiert, darunter zahlreiche Erweiterungsbauten von Bauern. Allgemein gilt die Nutztierhaltung als Hauptgrund für die in vielen Schutzgebieten über den Grenzwerten liegende Konzentration von Stickstoff im Boden. Dazu kann es kommen, wenn Landwirte ihre Felder zu stark düngen. Die Bauern bezweifeln jedoch die Zahlen der Regierung und fühlen sich zum Klimasündenbock gestempelt.

Diät für niederländische Kühe

Das vom Regierungschef Rutte nun vorgestellte Paket enthält drei Massnahmen, die kurzfristig zu geringeren Stickstoffablagerungen führen sollen.

Neben den Autofahrern nimmt die Regierung insbesondere die Viehzüchter ins Visier. Sie sollen ihren Kühen weniger Proteine füttern. Dadurch verringern sich die Ammoniak-Emissionen. Ammoniak ist eine Verbindung von Stickstoff und Wasserstoff. Die Regierung schreibt, die neue Diät dürfe aber weder auf die öffentliche Gesundheit noch auf das Tierwohl negative Auswirkungen haben. Die Umstellung der Fütterung soll für 47% der geplanten Stickstoffeinsparungen sorgen, die Geschwindigkeitsreduktion macht 16% aus. Als dritte Massnahme sollen schliesslich die Subventionen für den Umbau von Schweinezüchtereien von 120 Mio. € auf 180 Mio. € erhöht werden (37%). In diesem Bereich können Abluftreinigungsanlagen die Stickstoffemissionen verringern.

Bauvorhaben wieder aufnehmen

Die eingesparte Menge Stickstoff soll zu 30% die Natur entlasten. Die restlichen 70% hingegen sollen dazu dienen, entsprechende Emissionen neuer Bauprojekte zu kompensieren. Dafür wird ein Register eingerichtet. Verschiedene Strasseninfrastrukturprojekte werden mittels der eingesparten Stickstoffmenge dank der geringeren Höchstgeschwindigkeit ermöglicht. Die landwirtschaftlichen Massnahmen wiederum sollen im nächsten Jahr den Bau von 75 000 Wohnungen ermöglichen. Aufgrund der sistierten Bewilligungen fürchteten viele Bauarbeiter um ihre Stelle, was im Oktober zu Protesten des Baugewerbes in Den Haag geführt hatte.

Die nun vorgestellten Massnahmen sind lediglich ein erster Schritt. Im Dezember will die niederländische Regierung ein weiteres Massnahmenpaket vorlegen. Alle Sektoren müssten künftig zur Reduktion der Stickstoffablagerungen beitragen, teilte Den Haag mit.

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