Müllentsorgung in der Zelle

Auch in Zellen fällt Müll an. Wie dieser entsorgt wird, erforscht Molekularbiologe Sascha Martens in seinem aktuellen ERC-Projekt. Den dazugehörigen Prozess – die Autophagie – konnte er nun in Teilen "nachbauen" und dadurch bis dato unbekannte Voraussetzungen für die Müllentsorgung entdecken.

Der menschliche Körper besteht aus bis zu 30 Billionen Zellen, die wie ausgeklügelte Maschinen zusammenarbeiten. Molekularbiologe Sascha Martens wirft einen Blick in das Innere der "Maschinerie", um zu verstehen, wie zelluläre Prozesse auf molekularer Ebene funktionieren. Einer dieser Prozesse hat es ihm besonders angetan: die Autophagie.

Der Begriff Autophagie setzt sich aus den griechischen Wörtern "auto" (selbst) und "phagie" (fressen) zusammen, gemeint ist damit die Müllentsorgung im Inneren der Zelle. "Wie bei allen komplizierten Mechanismen geht auch in der Zelle manchmal etwas schief. Eiweiße können sich entfalten und dabei klumpen, fehlgeschlagene Mitochondrien entwickeln toxische Substanzen und beeinträchtigen dadurch die Zelle. Kann die Zelle ihre defekten Bestandteile nicht reparieren, muss sie diese entsorgen – andernfalls werden grundlegende Abläufe blockiert, neurogenerative Erkrankungen, Infektionen und andere Krankheiten sind die Folge", so Sascha Martens vom Department für Biochemie und Zellbiologie der Universität Wien.
 
Ein Blick in die Recyclinganlage

"Im alltäglichen Zusammenleben produzieren wir Müll, dieser kommt in den Müllsack, wird zur Verbrennungsanlage gebracht und verbrannt. In der Zelle gestaltet sich die Müllentsorgung ähnlich, nur effizienter", berichtet Martens. Die Zelle erkennt den Abfall und lässt eine Membran herum wachsen. Es entsteht ein Bläschen, das Autophagosom, das die defekten Zellbestandteile zum zellulären Mülleimer, dem Lysosom, transportiert. Die Fracht, so der Fachbegriff für den "Zellmüll", wird aber nicht wie in der Verbrennungsanlage vernichtet, sondern in Bestandteile zerlegt, die wiederverwertet werden.


Autophagie für das Mikroskop "nachbauen"

Doch wie muss der Abfall beschaffen sein, um von der Zelle als Abfall erkannt zu werden und wie schafft es die Zelle, gezielt nur den Müll zu verpacken? Auf diese Frage haben Martens und seine Forschungsgruppe nun Antworten gefunden. Der zelluläre Müll wird von der Zelle mit dem Protein Ubiquitin markiert, die sogenannten Frachtrezeptoren erkennen die markierte Fracht und binden sie an die Membran. Diesen Prozess hat Martens im Rahmen seines aktuellen ERC-Projekts "nachgebaut" und unter dem Mikroskop genauer in den Blick genommen. Dabei konnte er unter anderem beobachten, dass zellulärer Müll zwei Molekülketten haben muss, um als solcher erkannt zu werden. Außerdem bindet der Müll an jene Moleküle, welche die Membran des Autophagosoms bilden. "Der zelluläre Müll veranlasst also seine eigene Entsorgung, indem er um sich herum einen Müllsack bilden lässt. Ganz schön clever – leider ist das bei uns zu Hause nicht der Fall", schmunzelt Martens.

Die Förderung von grundlagenorientierter Pionierforschung ist einer der Schwerpunkte der Europäischen Union. Dafür wurde der Europäische Forschungsrat (European Research Council, ERC) geschaffen. Gefördert werden Forschungsprojekte mit hohem Potenzial für Innovationen. Seit 2007 wurden bereits 39 ERC Grants an ForscherInnen der Universität Wien vergeben: 14 Advanced Grants, 5 Consolidator Grants, 19 Starting Grants und ein Proof of Concept. Alle ERC Grants an der Universität Wien im Überblick

Selbstfressende Zellen

Autophagie wurde in den 1960er-Jahren bei Experimenten mit Ratten erstmals beobachtet: Die Versuchstiere bekamen über einen längeren Zeitraum keine Nahrung. Wissenschafter entdeckten, dass auch die Zellen der Ratten "hungerten" und Teile von sich selbst verwerteten. "Und was für Nagetiere gilt, lässt sich zellbiologisch meistens auch auf den Menschen übertragen: Wenn wir wenig essen oder viel Sport treiben, reduziert sich die Konzentration der Nährstoffe im Blut. Daraufhin regulieren die Zellen die Autophagie hoch", so der zweifache ERC-Preisträger.

Sascha Martens beantwortet die aktuelle Semesterfrage der Universität Wien "Gesundheit aus dem Labor – Was ist möglich?": "In den letzten Jahren hat die Forschung viele faszinierende Einblicke in die Mechanismen der Autophagie gewonnen, und wie sie unsere Körperzellen gesund hält. Es ist deshalb zu erwarten, dass wir dieses Wissen in absehbarer Zeit nutzen können, um Krankheiten, insbesondere neurodegenerative Erkrankungen, effektiver behandeln zu können."

Nobelpreis für die Autophagieforschung

Autophagie erregte 2016 das Interesse der breiten Öffentlichkeit, als der japanische Zellbiologe Yoshinori Ohsumi den Medizin-Nobelpreis für seine Arbeit zu Abbauprozessen in Zellen verliehen bekam (zum uni:view-Artikel). "Ohsumi forschte ab den 1980er-Jahren an Bäckerhefe, die den Vorteil hat, dass man sehr einfach Gene einzeln ausschalten, also genetische Screens durchführen kann. So konnte er damals mehrere Gene identifizieren, die für die Autophagie relevant sind. Mittlerweile wissen wir von mehr Genen, aber Ohsumi hat mit seiner Entdeckung den Weg für die Autophagieforschung geebnet", so Martens.

Ohne Grundlagenforschung keine Anwendung

Ohsumi hat aus eigener Neugierde heraus Verwertungsprozesse in der Zelle untersucht. Dass er dafür Jahrzehnte später den Nobelpreis bekommt und Pharmaunternehmen viel Geld investieren, um diesen Prozess zu modellieren, konnte er nicht ahnen. Ohne diese Grundlagenforschung, wie sie auch Martens und sein Team an den Max F. Perutz Laboratories betreiben, wären anwendungsorientierte Entwicklungen nicht möglich.

"Autophagie spielt bei vielen Krankheiten eine Rolle: bei Krebs und neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson, aber auch bei Entzündungen und Infektionskrankheiten. Wir wissen, dass diese Krankheiten entstehen, wenn Autophagie nicht richtig funktioniert. Ein nächster Schritt wäre herauszufinden, wie man mit den Ergebnissen aus unserer Grundlagenforschung Krankheiten beeinflussen und ihnen entgegenwirken kann", erklärt Martens. 

Die Max F. Perutz Laboratories (MFPL) wurden von der Universität Wien und der Medizinischen Universität Wien gegründet, um eine Umgebung für hervorragende und international anerkannte Forschung und Lehre auf dem Gebiet der Molekularbiologie zu schaffen. An den MFPL arbeiten rund 500 MitarbeiterInnen aus 40 Nationen in rund 60 unabhängigen Forschungsgruppen.

Forschungsstandort Wien
 
Martens kam 2009 von Cambridge nach Wien, um an den Max F. Perutz Laboratories die autophagozytotischen Wege am Modellorganismus Hefe und an menschlichen Zellen zu untersuchen. Bald darauf bekam er einen ERC Starting Grant, der ihm half, sich in der Autophagieforschung zu etablieren. Mittlerweile hat er ein internationales Team aus elf MitarbeiterInnen um sich und für sein Forschungsvorhaben auch einen ERC Consolidator Grant erhalten. "Die wissenschaftliche Expertise und die Forschungsinfrastruktur in Wien und am Vienna Biocenter (VBC) schaffen exzellente Bedingungen für meine Arbeit", freut sich Sascha Martens. (hm)

Sascha Martens forscht seit 2009 an den Max F. Perutz Laboratories der Universität Wien und der Medizinischen Universität Wien. Er erwarb sein Doktorat in Genetik an der Universität Köln und war von 2005 bis 2009 als Postdoc am MRC Laboratory of Molecular Biology in Cambridge tätig. Seit Januar 2015 hat Sascha Martens eine assoziierte Professur am Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Wien inne. (Foto: Max F. Perutz Laboratories/Daniel Hinterramskogler)

Für das Projekt "Molecular mechanisms of autophagosome formation during selective autophagy" erhielt Assoz. Prof. Dipl.-Biol. Dr. Sascha Martens, Privatdoz. den ERC Consolidator Grant. Das Projekt ist am Department für Biochemie und Zellbiologie des Zentrums für Molekulare Biologie der Universität Wien angesiedelt und läuft vom 1. März 2016 bis zum 28. Februar 2021.