apa.at
blog / Donnerstag 22.09.22

APA Check Avatar Busfahrten nach Kiew kein Beleg für Sozialbetrug

APA/dpa/Symbolbild

Ein in Sozialen Medien (1) verbreiteter Medienbericht (2) soll aktuell offenbar Missgunst gegen ukrainische Geflüchtete schüren. Es wird suggeriert, dass Flüchtlinge das österreichische Sozialsystem ausnützen würden, indem sie die Grundversorgung beziehen und dann mittels Flixbus in die Ukraine reisen. So fände eine Art „Grundversorgungs-Tourismus“ statt. Gestützt wird die Behauptung auf zahlreiche ausgebuchte Flixbus-Fahrten nach Kiew.

Einschätzung: Es gibt keine Belege für einen solchen Sozialbetrug ukrainischer Geflüchteter. Das geht aus Stellungnahmen des Innenministeriums sowie von Flixbus gegenüber der APA hervor. Ukrainerinnen und Ukrainer riskieren bei Reisen in ihr Heimatland den Verlust ihres Aufenthaltsrechts sowie einen permanenten oder temporären Entzug der Grundversorgung. Die beschriebene Form des Sozialbetrugs wäre in der Praxis sehr mühsam und vermutlich kaum lukrativ.

Überprüfung: Tatsächlich fahren jeden Tag mehrmals Flixbusse (3,4) von Wien nach Kiew. Die meisten Plätze sind bereits einige Tage vor der Fahrt ausgebucht. Ein Pressesprecher von Flixbus teilte der APA auf Anfrage mit, dass dem Unternehmen keinerlei Auffälligkeiten in Bezug auf das Reiseverhalten von Ukrainern bekannt seien. Auch dem Innenministerium sind keine Fälle von strukturellem Sozialbetrug der Grundversorgung bekannt, sagte ein Sprecher der APA auf Anfrage.

Rund 90.000 Menschen befinden sich aktuell in Österreich in der Grundversorgung. Wie das Innenministerium mitteilte, sind 56.600 davon Vertriebene aus der Ukraine.

Die Grundversorgung (5) erhalten hilfs- und schutzbedürftige Fremde. Dazu zählen in Österreich „Asylwerber, Asylberechtigte, Vertriebene und andere aus rechtlichen oder faktischen Gründen nicht abschiebbare Menschen“. Asylsuchende müssen in Österreich bleiben, da sonst das Asylverfahren eingestellt wird (6).

Für ukrainische Geflüchtete (7,8,9) gilt eine eigene Regelung. Am 4. März 2022 wurde die EU-Richtlinie 2001/55/EG (10) zur Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen auf Flüchtlinge aus der Ukraine angewandt. Innerstaatlich regelt das vorübergehende Aufenthaltsrecht die „Vertriebenen-Verordnung“ (11) der Bundesregierung vom 11. März 2022. Diese besteht vorerst bis 3. März 2023. Der Status sieht auch die Möglichkeit der Grundversorgung vor.

Neben der Schutz- und Hilfsbedürftigkeit ist für den Bezug der Grundversorgung eine Hauptwohnsitzmeldung (12) in Österreich Voraussetzung. Dem Innenministerium zufolge ruht – wenn die Grundversorgungsbehörde Kenntnis darüber erlangt – der Leistungsbezug bei einem vorübergehenden Auslandsaufenthalt für die Dauer der Abwesenheit. Bei längerer Abwesenheit erfolgt demnach „generell“ eine Abmeldung aus der Grundversorgung. Damit es zu keinem unrechtmäßigen Bezug der Grundversorgung kommt, müssen ukrainische Geflüchtete laut Innenministerium die jeweils zuständige Grundversorgungsbehörde über einen Auslandsaufenthalt informieren.

In der Abteilung V/B/9 (12) des Innenministeriums im Referat Leistungskontrolle finden zudem Kontrollen u.a. von Grundversorgungsbeziehern statt. So soll Missbrauch bzw. der ungerechtfertigte Bezug von Leistungen vermieden werden.

Auch bei mehrfachen Auslandsreisen wäre „das Vorliegen von Hilfsbedürftigkeit und Unterstützungswürdigkeit in Bezug auf die dafür aufzuwendenden finanziellen Mittel gegebenenfalls (…) neu zu bewerten“, heißt es weiter. Ein „dauerhaftes Verlassen“ des Bundesgebietes wäre ebenfalls mit einem Verlust des Aufenthaltsrechts und damit dem Anspruch auf Grundversorgung verbunden.

Das lässt sich auch in der „Vertriebenen-Verordnung“ (11) nachlesen. Das Aufenthaltsrecht ukrainischer Flüchtlinge in Österreich kann ihre Gültigkeit verlieren, wenn diese Österreich „nicht nur kurzfristig verlassen“, also in einen anderen Staat übersiedeln.

Ukrainische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger können also nicht ohne weiteres in ihr Heimatland reisen. Sie riskieren den Verlust ihres Aufenthaltsrechts sowie einen permanenten oder temporären Entzug der Grundversorgung.

Darüber hinaus stellt sich die Frage der Sinnhaftigkeit eines derartigen Vorgehens mit Blick auf die Ticket-Preise einer Flixbus-Fahrt nach Kiew und die Höhe der Grundversorgung. Die Ticketpreise schwanken zwischen 50 und 150 Euro. Die Reisedauer ist vom Unternehmen mit bis zu 37 Stunden angegeben, mit mehr als einem Tag ist demnach mindestens zu rechnen.

Die Höhe der Grundversorgung für Ukrainerinnen und Ukrainer variiert leicht zwischen den Bundesländern. In Wien (14) und Niederösterreich (13) bekommen Erwachsene, die in einer privaten Unterkunft untergebracht sind, etwa 215€ Verpflegungsgeld und 150€ Wohnzuschuss pro Monat. Familien erhalten zudem bis zu 300 € pro Monat Wohnzuschuss und Kinder etwa 100€ Verpflegungsgeld.

Bei organisierten Unterkünften wird zwischen Vollversorgung- und Selbstversorgungsunterkünften (12) unterschieden. Bei der Vollversorgung wird ein monatliches Taschengeld von 40€ ausbezahlt. Bei Selbstversorgung erhält jede Person ein tägliches Essensgeld von 6€.

In jedem Fall wirkt es wenig lukrativ, Grundversorgung zu beziehen und dann mit dem Flixbus zwischen Wien und Kiew zu pendeln, um Anwesenheit in Österreich vorzutäuschen oder Behördengänge zu erledigen. Eine der stundenlangen Fahrten kann schließlich einen großen Teil der monatlichen Grundversorgung ausmachen, die bei einem derartigen Betrugsmodell bereits nach kurzer Zeit entzogen werden könnte.

Quellen:

(1) Facebook-Posting: http://go.apa.at/z0XfPKNE (archiviert: https://archive.ph/xI76b)

(2) Medienbericht: http://go.apa.at/N9MLrVzH (archiviert: https://archive.ph/6xHMf)

(3) Flixbus-Fahrten am 20. September 2022 nach Kiew: http://go.apa.at/xtYwo3A1 (archiviert: https://archive.ph/c3dwq)

(4) Flixbus-Fahrten am 21. September 2022 nach Kiew: http://go.apa.at/Bm5lsjd5 (archiviert: https://archive.ph/igwzT)

(5) Innenministerium über Grundversorgung: http://go.apa.at/oAqIBitQ (archiviert: https://archive.ph/MEbHD)

(6) Rechte und Pflichten von Asylsuchenden in Österreich: http://go.apa.at/WtLBt77M (archiviert: https://archive.ph/BdKqu)

(7) FAQ zu Aufenthaltsrecht für Vertriebene aus der Ukraine: http://go.apa.at/TkMU3BR5 (archiviert: https://perma.cc/W9RE-WQZ2)

(8) Innenministerium über Schutz für ukrainische Geflüchtete: http://go.apa.at/pTrbd7HA (archiviert: https://archive.ph/VCwh4)

(9) Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl über Schutz für ukrainische Geflüchtete: http://go.apa.at/dZIwalHl (archiviert: https://archive.ph/5fQDo)

(10) EU-Richtlinie 2001/55/EG: http://go.apa.at/EwasFA9e (archiviert: https://archive.ph/OaTqN)

(11) „Vertriebenen-Verordnung“ der Bundesregierung vom 11. März 2022: http://go.apa.at/AZ3VscZk (archiviert: https://archive.ph/k304w)

(12) Abteilung V/B/9: http://go.apa.at/zEF7nH3H (archiviert: http://go.apa.at/Fb29uCiH)

(13) Grundversorgung für ukrainische Geflüchtete in Niederösterreich: http://go.apa.at/4D3TdAsK (archiviert: https://archive.ph/RVzpU)

(14) Grundversorgung für ukrainische Geflüchtete in Wien: http://go.apa.at/9PPuEzni (archiviert: https://archive.ph/UXIj5)

Wenn Sie zum Faktencheck-Team Kontakt aufnehmen oder Faktenchecks zu relevanten Themen anregen möchten, schreiben Sie bitte an faktencheck@apa.at

Valerie Schmid / Florian Schmidt