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Interview zur Ukraine „Asow verdankt seine Existenz dem Krieg“

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„Schiebe keine Panik! Mache dich bereit!“ So lautet das Motto eines „Asow“-Trainings für Zivilist:innen im Februar im Nordosten des Landes
„Schiebe keine Panik! Mache dich bereit!“ So lautet das Motto eines „Asow“-Trainings für Zivilist:innen im Februar im Nordosten des Landes (Quelle: picture alliance/Photoshot )

Der kanadische Journalist Michael Colborne ist Projektleiter bei Bellingcat Monitoring und war bis vor kurzem „Policy and Practitioner Fellow“ am „Centre for the Analysis of the Radical Right“ (CARR). Er recherchiert und schreibt über die extreme Rechte in Mittel- und Osteuropa, seine Texte sind u.a. bei Al Jazeera, Haaretz und The New Republic erschienen. Im März 2022 erscheint sein Buch „From the Fires of War: Ukraine’s Azov Movement and the Global Far Right“.

This interview is also available in English.

Belltower.News: Herr Colborne, Putin hat die abtrünnigen Regionen Donezk und Luhansk offiziell als unabhängige Staaten anerkannt und russische Truppen „zur Wahrung des Friedens“ entsandt. Europa steht kurz vor dem Krieg. Was bedeutet das für die extreme Rechte in der Ukraine?
Michael Colborne: „Asow“ ist die wichtigste rechtsextreme Bewegung in der Ukraine und hat ihre Präsenz so weit gefestigt, dass es kaum noch Gruppen außer „Asow“ gibt. Zunächst war „Asow“ ein Freiwilligenbataillon, hinzu kamen eine Bürgerwehr und eine politische Partei. Und „Asow“ macht sich die aktuelle Situation zunutze. Das „Regiment Asow“ hat einen Aufruf zur Rekrutierung von Mitstreitern veröffentlicht und seine Kontoverbindung für Spenden geteilt. Es will sich als „normaler“, patriotischer Akteur präsentieren. Das Narrativ ist: Wir sind Veteranen, wir wissen, was wir tun. In den vergangenen Monaten hat „Asow“ im ganzen Land intensiv für die Ausbildung in Selbstverteidigung geworben, so zum Beispiel Ende Januar in Kiew. Immer mehr Ukrainer:innen, vor allem in den Großstädten, denken darüber nach, wie sie sich verteidigen können, wenn es zum Schlimmsten kommt, zu einer Invasion im großen Stil.

Dass „Asow“ eine rechtsextreme Bewegung ist, stellt für die Menschen kein Problem dar?
Sie nehmen nicht an „Asow“-Trainings teil, weil sie gerne mit einer rechtsextremen Gruppe abhängen, sondern weil sie es entweder nicht wissen oder es ihnen in Anbetracht der Situation egal ist. Vielleicht glauben sie die sanfte Medienberichterstattung über „Asow“ in der Ukraine und halten sie überhaupt nicht für rechtsextrem.

Wäre ein Krieg für „Asow“ von Vorteil?
„Asow“ verdankt seine Existenz dem Krieg, ohne ihn würde es „Asow“ nicht geben. Deswegen heißt mein Buch „Aus den Feuern des Krieges“ – eine Zeile aus dem „Marsch der ukrainischen Nationalisten“ aus dem Jahr 1929, der als Hymne der rechtsextremen „Organisation der ukrainischen Nationalisten“ übernommen wurde. Eine abgeänderte Version wurde 2018 als offizieller Marsch der ukrainischen Armee angenommen. Aber ich denke, es gibt auch viele Menschen bei „Asow“, die nicht unbedingt einen realen Krieg anstreben, dass sie nicht so zynisch sind. Aber falls es zum Krieg kommt, würden sie das schon begrüßen. Sie sehen Krieg als eine Chance auf mehreren Ebenen.

In Ihrem Buch bezeichnen Sie „Asow“ als eine der ambitioniertesten rechtsextremen Bewegungen der Welt. Warum?
Zumindest in der Vergangenheit war sie ambitioniert, was ihre internationalen Ziele angeht. Von 2017 bis 2019 war sie sehr aktiv in der Vernetzung mit rechtsextremen Bewegungen in anderen Ländern – auch in Deutschland, zum Beispiel mit dem „III. Weg“. Doch zwei Faktoren haben diese internationalen Ambitionen stark gebremst. Erstens rückten Terroranschläge wie in Christchurch das Thema Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus international stärker in den Fokus. Damit ging eine kritischere Beobachtung einher, auch wenn manche Kritik nicht verdient war, um ehrlich zu sein. Denn die Art und Weise, wie der Attentäter von Christchurch mit „Asow“ in Verbindung gebracht wurde, entsprach nicht ganz der Wahrheit, auch wenn sein Manifest eine ähnliche Sprache und ähnliche Symbole verwendete und Mitglieder von „Asow“ sich positiv über ihn äußerten. Aber das erhöhte den internationalen Druck. Und zweitens wirkte sich auch die Pandemie ab 2020 aus. Aber „Asow“ ist immer noch gut mit rechtsextremen Bewegungen in Estland, Kroatien und Polen vernetzt.

„Asow“ will auch mehr sein als nur das Freiwilligenbataillon, als das es nach der Revolution und dem anschließenden Krieg im Jahr 2014 gegründet wurde…
Ganz genau. Es war in der Lage, seine eigene, der ukrainischen Nationalgarde angeschlossene Militäreinheit als Markenzeichen und Rekrutierungsinstrument zu nutzen, um eine breitere Bewegung aufzubauen, die aus dem „Regiment Asow“, der „Nationalmiliz“ (später in „Centuria“ umbenannt) und der Partei „Nationalkorps“ besteht. Das hat es ihnen auch ermöglicht, mit einem Maß an Straffreiheit und Offenheit zu agieren, das vielen anderen rechtsextremen Gruppen weltweit verwehrt bleibt.

Was ist ihr Ziel?
Sie wollen nicht nur die ukrainische, sondern auch die europäische Politik und Gesellschaft von Grund auf verändern. Olena Semenyaka, ehemalige internationale Hauptrepräsentantin der Bewegung, sagte mir in einem Interview: „Asow“ müsse „diesen psychologischen Widerstand gegen nationalistische, rechtsextreme Ideen“ in der ukrainischen Gesellschaft überwinden und dem entgegenwirken, was sie als „dämonisiertes Bild der extremen Rechten“ bezeichnete. Auch wenn dieses Ziel nur eine Illusion ist, ist es ihnen gelungen, die Nadel so weit wie möglich nach rechts zu schieben. Ihre Rhetorik ist zunehmend akzeptabel geworden.

Einige „Asow“-Mitglieder würden die Bezeichnung „rechtsextrem“ ablehnen. Wie würden Sie ihre Ideologie beschreiben?
Es handelt sich um eine heterogene rechtsextreme Bewegung, die gerne eine Minderheit von Neonazis und Anhänger:innen politischer Gewalt, wie groß auch immer sie ist, in ihren Reihen hat. „Asow“ als Ganzes ist ausdrücklich gegen die liberale Demokratie. Die Autoren, die sie beeinflussen und die sie offen zur Schau stellen, sind ultranationalistisch, rechtsextrem und faschistisch. Ein Ideologe der Bewegung hielt beispielsweise eine Rede, in der er sagte, Wählen sei kein Recht, sondern ein Privileg. „Asow“ lehnt auch jegliche Art von Gleichberechtigung ab – sei es für ethnische Minderheiten oder LGBTQ*.

„Asow“ hat sich um ein „Rebranding“ bemüht. 2015 aktualisierten sie das Logo des Regiments: Sie entfernten die „schwarze Sonne“ und kippten die Wolfsangel um 45 Grad, offenbar um weniger neonazistisch zu erscheinen…
Ihre Partei „Nationalkorps“ ist ein weiteres Beispiel. Selbst in einer Koalition mit anderen rechtsextremen Parteien kann sie die Drei-Prozent-Hürde bei Wahlen nicht erreichen. Aber Wahlpolitik ist nicht das Ziel der Bewegung. Die Partei ist im Grunde die öffentliche Marke von „Asow“. Wenn man sich die Sprache der Partei anhört, vermeidet sie extreme Rhetorik und verwendet stattdessen Codes. Andriy Biletsky, ehemaliger Kommandeur des „Regiments Asow“ und jetziger Anführer des „Nationalkorps“, würde sich heute nicht mehr so offen antisemitisch äußern oder die gleiche Neonazi-Rhetorik verwenden wie noch in den 2000er Jahren. Sie sind vorsichtiger geworden.

Diese Strategie ist teilweise aufgegangen. In den vergangenen Wochen haben mehrere internationale Medien über „Asow“ berichtet oder Mitglieder interviewt, ohne zu erwähnen, dass es sich um eine rechtsextreme Bewegung handelt.
In den sozialen Medien machte die „Asow-Oma“ die Runde: eine 79-jährige Frau in Mariupol, die von einem „Asow“-Soldaten ausgebildet wurde. Viele westliche Medien berichteten darüber, ohne den zusätzlichen Kontext, dass das Training vom „Regiment Asow“ organisiert wurde. Es war ein Fototermin für „Asow“. Im Moment strömen viele internationale Journalist:innen in die Ukraine – und natürlich gibt es auch Reporter:innen, die nicht unbedingt wissen, was die Gruppen und ihre Symbole sind. Und da kommt es dann zu peinlichen Patzern.

Gleichzeitig spielt Russland oft die Rolle der extremen Rechten in der Ukraine hoch – von den Maidan-Protesten bis zum anschließenden Krieg gegen prorussische Separatisten und russische Streitkräfte. Russische Medien nannten die Revolution 2014 beispielsweise einen „faschistischen Putsch“.
Interessant ist jetzt die Rhetorik aus Russland im Vergleich zu 2013 und 2014. In den russischen Staatsmedien oder der Kreml-Propaganda wird nicht mehr so explizit über die extreme Rechte in der Ukraine gesprochen. Sie scheint nicht mehr so zentral für das Mediennarrativ zu sein. Damals sprachen sie von bestimmten rechtsextremen Gruppen und Einzelpersonen als Bedrohung, sie verwendeten ständig das Wort „faschistisch“, das im russischen historischen Gedächtnis etwas ganz Bestimmtes hervorruft. Jetzt verwenden sie fast schon komische Übertreibungen wie eine „Neonazi-Regierung“ in Kiew oder einen „Völkermord“ im Donbas – lächerliche Anschuldigungen, die nicht haltbar sind. Gleichzeitig spielten die westlichen Medien oft die Rolle der extremen Rechten herunter.

Wie einflussreich war und ist die extreme Rechte in der Ukraine tatsächlich?
Die Rechtsextremen waren bei diesen Protesten immer eine kleine Minderheit. Aber es waren junge Männer, meist aus der rechtsextremen Hooligan-Subkultur oder Möchtegern-Paramilitärs, die Erfahrung mit Gewalt und dem Kampf gegen die Polizei hatten. Sie waren wichtig, um die gewalttätigsten Impulse des Janukowitsch-Regimes zurückzudrängen. Die traurige Realität ist, dass auf dem Maidan die Mehrheitsgesellschaft und die Rechtsextremen einander brauchten. Die Rechtsextremen waren zwar eine Minderheit, aber sie waren notwendig, um zu verhindern, dass die Polizei die Proteste niederschlägt. Und ohne den Rückhalt der Mehrheitsgesellschaft wären die Rechtsextremen sicherlich niedergeschlagen oder gar getötet worden.

Auch Russland hat seinen Anteil an Neonazis, aber mehrere prominente Figuren wie Denis Nikitin oder Alexey Levkin leben in der Ukraine. Warum eigentlich?
Vielen Menschen ist nicht bewusst, wie viele russische Neonazis nicht nur in der Ukraine, sondern auch auf ukrainischer Seite sind. Etwa 50 oder mehr Russen haben im „Regiment Asow“ gedient. Viele rechtsextreme Russen sind schon vor Maidan in die Ukraine ausgewandert, weil Putin, nachdem er zunächst versucht hatte, die Rechtsextremen zu nutzen, hart gegen sie vorging. Denn er sah sie als eine mögliche Opposition gegen sein Regime an. Als 2014 in der Ukraine Krieg ausbrach, sahen sie eine Gelegenheit, nicht gegen ihr Mutterland, sondern gegen den Kreml zu kämpfen. Natürlich ergriffen sie diese Chance.

Wie sieht die Zukunft der „Asow“-Bewegung aus?
Das hängt ganz davon ab, was in der Ukraine passiert und wofür Putin sich entscheidet. Es gibt viele verschiedene Szenarien. Aber wenn die Situation zu einem regelrechten Krieg eskaliert, mit rechtsextremen Partisanen, die auf den Straßen kämpfen, dann wird die Folge natürlich der Tod vieler Menschen sein. Es wird die Hölle. Wenn Putin aber, was optimistischer ist, nach der Anerkennung dieser sogenannten „Separatistenstaaten“ ein wenig zurückweicht, dann kann vieles passieren. Aber so oder so ist es klar, dass die „Asow“-Bewegung nicht verschwinden wird. Sie ist zu stark, um einfach ausgelöscht zu werden.

From the Fires of War
„From the Fires of War: Ukraine’s Azov Movement and the Global Far Right“
Michael Colborne
200 Seiten
(ibidem Press, 2022)

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