Ivo Ligeti auf der Dachterrasse des Hauses, indem er derzeit lebt

Ivo Ligeti ist deutscher Student in Jordanien, macht dort seit September 2019 sein Auslandsjahr. Der 23-Jährige wohnt dort mit einem Jordanier und einer Südkoreanerin in einer Wohngemeinschaft.

Letzten Samstag verhing die jordanische Regierung die härteste Ausgangssperre der Welt: Wer außerhalb seiner Wohnung erwischt wird, muss mit Gefängnis von bis zu einem Jahr rechnen.

Für Business Insider beschreibt er, wie es ihm gerade geht.

Ich bin es gewohnt, in Amman aus dem Schlaf gerissen zu werden: Etwa 50 Meter von meinem Fenster steht ein Minarett der Zentralmoschee, aus dem der Muezzin bei Sonnenaufgang zum Gebet ruft. Doch letzten Samstag war es nicht die vertraute Stimme, die mich weckte, sondern ein Geräusch, das ich hoffentlich nie wieder erleben muss: Um Punkt 7 Uhr hörten alle Bewohner der jordanischen Hauptstadt ein Sirenengeheul, das minutenlang durch die Straßen hallte, gefolgt von einer Stimme, die uns dazu aufforderte, unter allen Umständen zu Hause zu bleiben. Und als man glaubte, der Spuk sei vorbei, wiederholte sich das Schauspiel: Die Sirenen heulten ein zweites Mal auf, wieder gefolgt vom Quarantäne-Befehl.

Danach: Totenstille. Ich schaue aus dem Fenster und sehe: nichts. niemanden. Leergefegte Straßen, wo sonst Taxifahrer zur Rush Hour ein Hupkonzert veranstalten. Das Café und der Kiosk an der Kreuzung: geschlossen. Die jordanische Hauptstadt, die inzwischen mehr Einwohner hat als Berlin, ist zum völligen Stillstand gekommen, und mit ihr das ganze Land. Amman sieht aus wie die Kulisse eines Katastrophenfilms.

Ein Infizierter auf einer Hochzeit

Vor wenigen Tagen war die Lage noch ganz anders: Ich saß mit meinen Freunden im Café, wir feierten im Restaurant einen Geburtstag und gingen anschließend sogar noch ins Hammam. Und wer mir jetzt unterstellt, ich würde Social Distancing nicht ernstnehmen: Zu dem Zeitpunkt befand sich die offizielle Zahl der Corona-Infizierten hier tatsächlich noch bei 0. Es war bloß ein Jordanier aus Italien mit dem Virus zurückgekehrt, und den hatte man inzwischen für genesen befunden und aus dem Krankenhaus entlassen. Mittlerweile sind es durch weitere Rückkehrer und eine schon berüchtigte Hochzeit in der Stadt Irbid, wo ein Infizierter mitfeierte, 127 Patienten geworden.

Zum Vergleich: Als Deutschland am 1. März diese Zahl überschritt, fanden dort noch Bundesligaspiele vor Publikum statt, eine Woche zuvor feierte man ungestört Karneval. Jordanien fing bereits nach ein paar Dutzend Fällen an, sämtliche Landesgrenzen abzuriegeln, Flugverbindungen zu kappen sowie Moscheen, Kirchen, Schulen, Kinos, Restaurants und Sportklubs zu schließen. Einige meiner Freunde und ich dachten da noch, dass wir diese entbehrungsreiche Zeit mit Wanderungen oder Radtouren überbrücken könnten, jetzt wo es in der Stadt nichts mehr zu tun gibt. Doch da waren wir wohl etwas naiv.

Sogar Supermärkte und Apotheken haben im Gegensatz zu allen europäischen Ländern zu

Die Regierung um Ministerpräsident Omar al-Razzaz hat letzten Freitag mit nur einem Tag Vorlauf einen zweiten Maßnahmen-Katalog verkündet, der selbst über den kompletten Lockdown in Italien hinausgeht: Rausgehen ist strengstens untersagt. Sogar Supermärkte und Apotheken haben im Gegensatz zu allen europäischen Ländern zu. Essen soll man, was im Haus ist. Wer also keinen Vorrat hatte, musste noch am letzten Tag vor der Ausgangssperre hamstern gehen; vor Bäckereien und Supermärkten bildeten sich lange Schlangen, in die ich mich Gott sei Dank nicht anstellen musste, da meine WG schon etwas früher der Panik zum Opfer gefallen war und sich einen Vorrat angelegt hatte.

Das Haus habe ich inzwischen seit fünf Tagen nicht verlassen. Um frische Luft zu schnappen, können wir immerhin auf unser begehbares Dach steigen. Und die Luft, das muss man sagen, ist tatsächlich spürbar frischer geworden, seit der Verkehr praktisch ausgesetzt wurde: Die Vögel zwitschern, Amman, dieser beige, architektonische Einheitsbrei, kommt mir dieser Tage fast etwas idyllisch vor.

Der Ministerpräsident ist mein Nachbar

Dass ich von meinem Fenster und vom Dach überhaupt noch Leben sehe, habe ich ebenfalls Omar al-Razzaz zu verdanken: Der ist nämlich nicht nur Ministerpräsident, sondern, wie es der Zufall will, auch mein Nachbar, sodass mehrmals täglich ein Fahrzeug mit Regierungskennzeichen in unsere Straße einbiegt. Und da vor Herrn Razzaz’ Haus zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Polizist postiert ist, der mich erwischen könnte, komme ich auch gar nicht in Versuchung, gegen die Ausgangssperre zu verstoßen.

Was gar nicht so leicht ist: Denn obwohl wir nichts von draußen benötigen, müssen wir früher oder später den Müll rausbringen, der sich langsam im Hausflur stapelt. Eigentlich keine große Sache: Es geht hier schließlich darum, ein Virus in Schach zu halten, und auf den 30 Metern Fußweg zum Container hat sich schon seit Tagen niemand blicken lassen, den man anstecken könnte. Offiziell soll es zwischen 8 und 10 Uhr morgens erlaubt sein, den Müll rauszubringen. Doch ein Freund aus einem anderen Viertel schreibt mir, dass er jemanden kennt, dessen Nachbar wohl trotzdem dabei verhaftet worden sei.

Wer draußen erwischt wird, dem droht ein Jahr Gefängnis

Solche Gerüchte, die Angst schüren und verunsichern, kursieren also auch in Jordanien. Fest steht, dass die Polizei tatsächlich konsequent durchgreift, wenn man sich nicht an die Regeln hält: Allein am ersten Tag der Sperre wurden knapp 400 Menschen festgenommen und in zwei Schulen gebracht, die als Interimsgefängnisse dienen – sonst stünden sie ja aktuell auch leer. Ihnen droht jetzt bis zu ein Jahr Haft. Mein Mitbewohner entscheidet sich letztlich doch dafür, zum Container zu laufen – und kommt wenig später als freier Mann wieder zurück.

So sitzen wir also da, essen unsere Nudel-Reserven auf, spielen Backgammon und blicken ins Tal hinunter auf der Suche nach menschlichem Leben. Wir, das sind übrigens nicht nur meine üblichen Mitbewohner, sondern auch Marco, ein gestrandeter deutscher Tourist, der bei uns eingezogen ist, während er auf seinen Rückholflug nach Deutschland wartet. Ab und zu können wir auf weit entfernten Dächern und Balkonen jemanden erspähen, hier und da auch mal einen Krankenwagen oder ein Fahrzeug der Armee. Am zweiten Tag sehen wir zwei Menschen über die Kreuzung rennen. Später, als es schon dunkel ist, bricht auf der anderen Seite des Tales großer Jubel aus: Die Menschen klatschen minutenlang, um Armee und Ärzten für ihren Einsatz zu danken.

Ein Ende der Ausgangssperre ist nicht in Sicht

Am Dienstag, dem vierten Tag des Lockdowns, ist es nun erstmals wieder möglich, einzukaufen: Allerdings stehen bislang nur Brot, Wasser, Medikamente und Gas zur Auswahl, die über ein Liefersystem bezogen werden können. Die Supermärkte bleiben weiterhin geschlossen. Wie man an sonstige Lebensmittel kommt, wird die Regierung erst morgen ankündigen. Auch für Raucher gibt es einen Lichtblick: Am Donnerstag werden offenbar Zigaretten geliefert. Doch ein Ende der Ausgangssperre ist noch nicht in Sicht.

Was bleibt, ist ein mulmiges Gefühl. Schön ist es jedenfalls nicht, plötzlich so vieler essentieller Rechte beraubt zu werden. Doch wenn das Leben noch so wäre wir vor ein paar Wochen, die Menschen noch in den Cafés säßen, einkaufen gingen, Touristen einreisen könnten, wäre das Gefühl wohl noch mulmiger: Wenn in Deutschland schon ein Kollaps des medizinischen Systems befürchtet wird, wie soll es dann erst in Jordanien enden? Was, wenn das Virus seinen Weg in die syrischen Flüchtlingslager findet, allen voran Zaatari mit seinen knapp 80.000 Bewohnern?

Abwarten, Tee trinken – und Nudeln essen

Jordanien hat Glück: Da das Virus erst hierher gelangte, als anderswo die Katastrophe schon ihren Lauf nahm, konnte die Regierung viel früher handeln. Dadurch, dass die Fallzahlen so gering sind, hat das Königreich noch eine realistische Chance, der Ausbreitung Herr zu werden und viel schneller wieder auf Normalbetrieb zu schalten als Europa – und sei es mit geschlossenen Grenzen und ohne Flugverkehr. Bis dahin heißt es: abwarten und Tee trinken. Oder: Nudeln essen.