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blog / Mittwoch 06.04.22

APA Check Avatar Bereits frühe Belege für mögliche Butscha-Verbrechen

APA/AFP PHOTO /Satellite image ©2022 Maxar Technologies

Hunderte Leichen, die nach dem Abzug der russischen Truppen im Kiewer Vorort Butscha gefunden worden waren, haben in den letzten Tagen für Entsetzen gesorgt und Rufe nach weiteren Sanktionen sowie unabhängigen Untersuchungen laut werden lassen. In Sozialen Medien (1) und tendenziösen Online-Blogs (2,3) werden hingegen oftmals unbelegte und falsche Narrative des russischen Verteidigungsministeriums (4) wiedergegeben.

Dem Ministerium zufolge seien „Hinweise auf Verbrechen“ nicht vor dem vierten Tag nach dem Truppenabzug am 30. März bekannt geworden und auf von Kiew veröffentlichten Bildern hätten die „Körper der Menschen“ keine Leichenstarre und keine Leichenflecken – das Material sei inszeniert. Auch die russische Botschaft in Wien griff diese Behauptungen auf Telegram (5) auf. Pro-Russische Blogger schlussfolgern zudem, dass die Taten nicht während der russischen Besatzung geschehen sein können und stellen eine russische Beteiligung infrage.

Einschätzung:

Der stellvertretende Bürgermeister und der Bürgermeister von Butscha sprachen am 1. und 2. April von Leichen auf den Straßen. Auch die AP nahm am 2. April bereits mehrere Bilder von Opfern in Zivilkleidung auf. Zumindest seit dem 1. April kursieren zudem auf Twitter mehrere Videos von leblosen Körpern. Eine Leichenstarre ist mit bloßem Auge nicht erkennbar. Leichenflecken entstehen dort, wo die Leiche auf dem Boden aufliegt. US-Satellitenbilder bestätigen, dass einige der gefundenen Leichen schon vor Abzug der russischen Truppen dort lagen.

Überprüfung:

Meldungen von Leichen seitens der ukrainischen Behörden

Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums zogen deren Truppen am 30. März 2022 „vollständig“ von Butscha ab. Anatoly Fedoruk, der Bürgermeister der Kleinstadt, sprach am 1. April in einem Video (6) lediglich von der „Befreiung der Stadt“. Der stellvertretende Bürgermeister von Butscha, Taras Shapravskyi, sagte dann aber in einem Facebook-Video (7), das am 1. April in der Früh veröffentlicht wurde, dass Leichen schon länger auf den Straßen liegen würden. Und auch der Bürgermeister selbst sagte am 2. April der Nachrichtenagentur AFP (8), dass die Straßen mit Leichen übersät seien. Anders als behauptet haben ukrainische Behörden die Hinweise auf mögliche Kriegsverbrechen also bereits ab dem zweiten Tag nach dem russischen Abzug gemeldet.

In die stark zerstörte Stadt sofort nach dem russischen Rückzug vorzudringen, dürfte zudem nur schwerlich möglich und riskant gewesen sein. In dem Facebook-Video des Vize-Bürgermeisters (6) ist nämlich auch die Rede davon, dass es immer noch gefährlich sei, in die Stadt zurückzukehren, da das Gebiet, Gebäude, militärische Ausrüstung und sogar Leichen vermint sein könnten, vereinzelt noch Russen anwesend seien und es die Möglichkeit von Sabotageakten gebe. Am 31. März am Abend berichtete ein BILD-Journalist auf Twitter (9), dass die Russen die Stadt zwar verlassen hätten, aber ukrainische Truppen noch nicht zurückgekehrt seien.

Bild- und Videomaterial von leblosen Körpern

Etwa zeitgleich mit den Stellungnahmen der ukrainischen Lokalpolitiker tauchten auch die ersten Pressefotos von leblosen Körpern in Butscha auf sowie kursierten Videos davon auf Twitter. Die Nachrichtenagentur AP nahm am 2. April gegen Mittag unserer Zeit die ersten sechs Bilder auf (10, 11, 12, 13, 14, 15). Sie zeigen allesamt leblose Körper von Menschen in Zivilkleidung, die auf der Straße liegen. Ukrainische Soldaten untersuchen, ob die Körper mit versteckten Sprengladungen versehen sind.

Auf Twitter sind zumindest seit dem 1. April Videos von leblosen Körpern auffindbar, bei denen der Ort verifizierbar ist. Das „Centre for Strategic Communications and Information Security“ veröffentlichte eines der ersten Videos (16) am Abend des 1. April. Zu sehen sind zwei der Körper, die auch auf einem AP-Foto erkennbar sind. Aufgenommen wurde das Bild- und Videomaterial in der Yablonska Straße (17) in Butscha.

In einem zwei Stunden später veröffentlichten Video (18) fährt ein Auto dieselbe Straße entlang. Der Startpunkt (19) ist etwa 160 Meter entfernt. Ein drittes Video (20) vom nächsten Tag fährt auch diese Strecke ab. Übereinstimmend sind abgesehen davon drei nahe beieinander liegende leblose Körper, die auch in einem AFP-Video (23) aus einer anderen Perspektive zu sehen sind. Dieser Standort (21) ist anhand eines der umliegenden Häuser ebenfalls verifizierbar. Zu beachten ist, dass die Google Maps-Aufnahmen noch aus dem Jahr 2015 stammen – die Gegend hat sich seither verändert.

In allen drei Videos sind Wasserlachen und starker Nebel zu sehen. Das stimmt überein mit dem Wetter (22) in Butscha von 31.3. bis 2.4. Am 31. gab es Nieselschauer, in der Nacht auf 1. regnete es. Am 1. und 2. war es neblig.

Auch Bild- und Videomaterial, das möglicherweise Kriegsverbrechen zeigt, tauchte also – anders als vom russischen Verteidigungsministerium und der russischen Botschaft in Wien behauptet – bereits innerhalb der vier Tage nach dem russischen Truppenabzug auf. Nichts deutet auf „zeitliche Ungereimtheiten“ (3) oder Manipulationen hin.

Angeblich fehlende Leichenstarre und Leichenflecken

Das Ministerium und die Botschaft stellten noch eine andere Behauptung auf, die von Russland-freundlichen Usern übernommen wurde: Die Körper würden keine Leichenstarre und keine Leichenflecken aufweisen. Das bestätige eine Inszenierung für westliche Medien. Tatsächlich sieht man die Leichenstarre aber „nicht ohne Weiteres“. Man könne sie „nur am Leichnam untersuchen“, sagte Benjamin Ondruschka, der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), in einem gemeinsamen Gespräch mit der APA und der dpa.

Leichenflecken würden zudem „an den lageabhängigen Körperpartien, also beispielsweise auf dem Rücken, wenn ein Verstorbener auf dem Rücken liegt“ entstehen. Sie wären also auf dem Bild- und Videomaterial der Körper gar nicht sichtbar.

Bezogen auf ein paar der leblosen Körper in Butscha (23, 12) sagte Ondruschka: „Es gibt keinen plausiblen Grund, daran zu zweifeln, dass dort Verstorbene liegen.“ Der Experte sieht auch keinen Widerspruch zu der Möglichkeit, dass eine Leiche, unter den gegebenen Witterungsbedingungen in Butscha, nach drei Wochen noch so wie auf den Bildern aussehen würde.

US-Satellitenbilder bestätigen Lagedauer von Leichen

Am Montag veröffentlichte US-Satellitenbilder belegen nämlich, dass einige der in Butscha gefundenen Leichen schon vor Abzug der russischen Truppen dort gelegen haben. Die „hochauflösenden“ Bilder „bestätigen die jüngsten Videos und Fotos in den sozialen Medien, auf denen Leichen zu sehen sind, die seit Wochen auf der Straße liegen“, erklärte ein Sprecher der US-Satellitenbildfirma Maxar Technologies, wie die APA (24) bereits berichtete.

Nach Angaben der „New York Times“ (25) lagen zumindest elf der Körper auf der Yablonska Straße in Butscha bereits seit dem 11. März – also als russische Truppen eigenen Angaben zufolge noch die Stadt besetzten – dort. Weitergehende Analysen hätten gezeigt, dass die leblosen Körper seit über drei Wochen in genau derselben Körperstellung liegen würden, wie auf Bildern zu sehen ist. Aus rechtsmedizinischer Sicht heißt es dazu: „Wenn er nicht bewegt wird, ändert sich die Lage eines Leichnams nicht, zumindest nicht, bis der Prozess der Zersetzung sehr weit fortgeschritten ist“, so Ondruschka.

Zu den russischen Behauptungen rund um Butscha gibt es auch eine Reihe von anderen Medienberichten, etwa von BBC (26), „Newsweek“ (27) oder dem Recherchekollektiv „Bellingcat“ (28).

Korrektur (07.04.2022 13:13 Uhr): Das Video von Anatoly Fedoruk wurde am 1. April veröffentlicht. Im 3. Absatz muss es richtig heißen: „Auch die AP nahm am 2. April bereits mehrere Bilder von Opfern in Zivilkleidung auf. Zumindest seit dem 1. April kursieren zudem auf Twitter mehrere Videos von leblosen Körpern.“ Im 6. Absatz muss es richtig heißen: „Die Nachrichtenagentur AP nahm am 2. April gegen Mittag unserer Zeit die ersten sechs Bilder auf.“ Die Metadaten der AP-Bilder legen nahe, dass der Zeitstempel der Zeitzone UTC-5 entspricht. 

Quellen:

(1) Facebook-Posting: http://go.apa.at/eu1aG3WP (archiviert: https://perma.cc/9LE5-5EZQ)

(2) Blog-Artikel 1 von „Anti-Spiegel“: http://go.apa.at/j9rxduTf (archiviert: https://archive.ph/b9E14)

(3) Blog-Artikel 2 von „Anti-Spiegel“: http://go.apa.at/h10DjXuq (archiviert: https://archive.ph/5xC77)

(4) Tweet des russischen Verteidigungsministeriums: http://go.apa.at/Q3TF0vgP (archiviert: https://archive.ph/gJPHc)

(5) Telegram-Beitrag der russischen Botschaft in Wien: http://go.apa.at/1R4wizXX (archiviert: https://archive.ph/NUuoC)

(6) Video von Bürgermeister von Butscha: http://go.apa.at/tITkoyAp (archiviert: https://perma.cc/2CZK-ZTWN)

(7) Video von Vize-Bürgermeister von Butscha: http://go.apa.at/fFewRIQl (archiviert: https://perma.cc/TU4T-QRY4)

(8) AFP-Artikel mit Stellungnahme von Bürgermeister von Butscha: http://go.apa.at/t1pSwABp (archiviert: https://archive.ph/rdPne)

(9) Tweet von BILD-Journalist: http://go.apa.at/V3kFHVQG (archiviert: https://archive.ph/mKsf6)

(10) AP-Bild: http://go.apa.at/0zxpXHNa (archiviert: https://archive.ph/ABMtt)

(11) AP-Bild: http://go.apa.at/yqBS0mhJ (archiviert: https://perma.cc/L3AK-Z39Z)

(12) AP-Bild: http://go.apa.at/llSGh5yU (archiviert: https://archive.ph/vX95C)

(13) AP-Bild: http://go.apa.at/ixb06NOy (archiviert: https://archive.ph/n2joX)

(14) AP-Bild: http://go.apa.at/gS8bnv0K (archiviert: https://perma.cc/7JDV-6YD4)

(15) AP-Bild: http://go.apa.at/vtdquXhf (archiviert: https://perma.cc/5SXP-QTTU)

(16) Twitter-Video (1. April): http://go.apa.at/X8LbZB6t (archiviert: https://perma.cc/QLT8-7DY8)

(17) Google Maps-Aufnahme 1 von Yablonska Straße in Butscha: http://go.apa.at/XL9mtkGH (archiviert: https://archive.ph/TCqiY)

(18) Twitter-Video (1. April): http://go.apa.at/CTppkT0M (archiviert: https://perma.cc/68N7-7SUK)

(19) Google Maps-Aufnahme 2 von Yablonska Straße in Butscha: http://go.apa.at/XYxc2p8r (archiviert: https://archive.ph/sKp86)

(20) Twitter-Video (2. April): http://go.apa.at/arsmZPaZ (archiviert: https://perma.cc/V39K-FPVF)

(21) Google Maps-Aufnahme 3 von Yablonska Straße in Butscha: http://go.apa.at/PlVIy690 (archiviert: https://archive.ph/aiEWd)

(22) Wetter in Butscha: http://go.apa.at/fswTucI0 (archiviert: https://perma.cc/8F77-GYUJ)

(23) AFP-Video mit angesprochenem Bild (0.17 sec): http://go.apa.at/3tkpvHoO (archiviert: https://perma.cc/KB84-2R69)

(24) APA-Bericht zu US-Satellitenbildern: http://go.apa.at/GNxaODQr (archiviert: https://archive.ph/9BivY)

(25) „New York Times“-Artikel: http://go.apa.at/m7FmcUnQ (archiviert: https://archive.ph/dYsdw)

(26) BBC-Artikel: http://go.apa.at/VI0BjLMz (archiviert: https://archive.ph/sx84T)

(27) „Newsweek“-Artikel: http://go.apa.at/w35rJaz5 (archiviert: https://archive.ph/2FEhc)

(28) „Bellingcat“-Artikel: http://go.apa.at/rhj9cXjq (archiviert: https://archive.ph/W0D6M)

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Valerie Schmid / Florian Schmidt