Vergangenen Donnerstag wurde eine Frau in Wien von ihrem Ex-Freund erschossen. Es ist bereits der neunte Fall in diesem Jahr, bei dem eine Frau in Österreich durch die Hand ihres Partners oder Ex-Partners stirbt. Medienberichten zufolge handelt es sich bei dem mutmaßlichen Täter im aktuellen Fall um den sogenannten "Bierwirt", der wegen eines Rechtsstreits mit der österreichischen Grünenpolitikerin Sigrid Maurer bekannt geworden ist. Er soll der Politikerin 2018 frauenfeindliche Nachrichten geschickt haben, die diese auf Facebook öffentlich machte – woraufhin er sie verklagte.

Das österreichische Innenministerium hat am Montag einen Sicherheitsgipfel einberufen, um ein Maßnahmenpaket zum Schutz von Mädchen und Frauen vor Gewalt zu erarbeiten. ze.tt hat mit Maria Rösslhumer darüber gesprochen, warum es in Österreich so häufig zu Femiziden kommt – und was sich ändern muss. Rösslhumer leitet den Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser und ist stellvertretende Vorsitzende des Österreichischen Frauenrings, einer Dachorganisation von über 40 Frauenvereinen.

ze.tt: Frau Rösslhumer, in den vergangenen vier Monaten wurden in Österreich neun Frauen ermordet. Hat Österreich ein Problem mit Femiziden?

Maria Rösslhumer: Es ist tatsächlich schlimmer geworden. Die Zahl der Frauenmorde hat sich verdoppelt. 2014 gab es in Österreich 19 Frauenmorde, 2018 waren es bereits 41. 2019 wurden 39 Frauen getötet, vergangenes Jahr 31. Die Zahlen sind rückläufig, aber vermutlich weil die Pandemie dazu führt, dass Frauen oft nicht aus ihrem Zuhause – in dem sie Gewalt ausgesetzt sind – flüchten und sich von ihren Partnern trennen können. Trennung und Scheidung sind die häufigsten Gründe, ermordet zu werden. Die Frauenhelpline verzeichnete vergangenes Jahr 20 Prozent mehr Anrufer*innen als noch 2019. Es gibt deutlich mehr Wegweisungen und Betretungsverbote [Anmerkung der Redaktion: Die österreichische Polizei kann Personen, die gewalttätig geworden sind, für zwei Wochen aus der Wohnung verbannen]. 2019 wurden 8.748 Betretungs- und Annäherungsverbote ausgesprochen, 2020 waren es 11.652. Wir befürchten, dass sich das Problem weiter zuspitzen wird, wenn zu wenig getan wird. 

Politiker*innen versuchen, Gewalt an Frauen zu verharmlosen, indem sie sie verstärkt als ein 'importiertes Problem' abstempeln, das durch die Migration nach Österreich gekommen ist.
Maria Rösslhumer

ze.tt: Österreich ist nach einer aktuellen Statistik das einzige EU-Land, in dem es mehr Morde an Frauen als an Männern gibt. Worauf sind diese hohen Zahlen zurückzuführen?

Rösslhumer: Österreich ist ein sehr katholisches, konservatives Land. Das patriarchale Denken sitzt noch tief in den Köpfen. Diese Haltung ist auch in der Politik deutlich spürbarer, seit 2018 die konservative bis rechtspopulistische Regierung an die Macht kam. Frauenrechte und der Schutz von Frauen sind nicht mehr so selbstverständlich und müssen neu verhandelt werden. Politiker*innen versuchen, Gewalt an Frauen zu verharmlosen, indem sie sie verstärkt als ein "importiertes Problem" abstempeln, das durch die Migration nach Österreich gekommen ist. Aber das stimmt so nicht. Es gibt in Österreich ein Problem mit Gewalt gegen Frauen, das sich keineswegs auf Migrant*innen reduzieren lässt. Jede fünfte Frau erlebt hier in ihrem Leben körperliche oder sexualisierte Gewalt. Ein anderer Grund ist die wirtschaftliche Situation vieler Menschen – das betrifft natürlich nicht nur Österreich, sondern auch andere Länder. Wenn finanzielle Probleme und Arbeitslosigkeit zunehmen, nimmt auch Gewalt zu. Das haben wir schon in der Zeit während und nach der Wirtschaftskrise 2008 beobachtet. Beides erzeugt Frust, vor allem bei den Männern. Arbeitslos zu sein heißt für sie auch ein Verlust dessen, was traditionell unter Männlichkeit verstanden wird. 

ze.tt: Sie würden also sagen, die Situation der Frauen in Österreich hat sich unter der aktuellen Regierung verschlechtert?

Rösslhumer: Ja. Österreich hatte in Sachen Opferschutz lange eine Art Vorreiterrolle, über viele Jahre gab es eine gute Zusammenarbeit zwischen der Politik und uns Opferschutzeinrichtungen. Seit 2018 werden wir nicht mehr so oft einbezogen. Auch zum Sicherheitsgipfel, den die Regierung wegen der Frauenmorde einberufen hat, sind wir nicht eingeladen worden. Die aktuelle Regierung legt den Fokus oft falsch: Sie haben vergangenes Jahr das Strafmaß für Täter erhöht, obwohl es ohnehin kaum zu Verurteilungen kommt. Durch die Bezeichnung als "importiertes Problem" versuchen sie, die Verantwortung von sich wegzuschieben – weil es eben kein gesellschaftliches Problem der österreichischen Bevölkerung sei. Teilweise wurden Maßnahmen verabschiedet, die wir überhaupt nicht gutheißen. So gibt es für Spitäler seit vergangenem Jahr eine Anzeigepflicht bei Vergewaltigungen. Heißt: Kommt eine Frau nach einer Vergewaltigung zu ihnen, sind Ärzt*innen verpflichtet, das der Polizei zu melden. Das nimmt Frauen die Entscheidungsmacht und baut eine Hürde auf, sich ärztliche Hilfe zu suchen. Ab September wird es außerdem verpflichtende Täterberatungen von sechs Stunden nach einer Wegweisung geben. Wir haben aber schon im Opferschutzbereich viel zu wenig Kapazitäten, um Betroffene ausreichend zu unterstützen – dass wir jetzt zusätzlich noch Täter beraten sollen, ist sehr schwierig. Wir fordern stattdessen, dass Antigewaltprogramme über acht Monate, die es in Österreich bereits vereinzelt für Täter gibt, weiter ausgebaut werden. Bisher gibt es die nur in drei Bundesländern, meistens ist die Teilnahme freiwillig, weil die Justiz Straftäter nur selten dazu verpflichtet, an den Programmen teilzunehmen.

ze.tt: Sie haben gerade erwähnt, dass es kaum zu Verurteilungen kommt. Warum ist das so?

Rösslhumer: Österreich hat gute Gesetze zum Schutz von Frauen: Wir haben ein Gewaltschutzgesetz, ein Betretungsverbot, ein Annäherungsverbot. Es scheitert an der Umsetzung. Nur etwa elf Prozent der Anzeigen gegen Gewalt an Frauen führen zu einer Verurteilung – 70 Prozent werden eingestellt, weil Aussage gegen Aussage steht und das Umfeld oft nicht vernommen wird. Das ist eine Ohrfeige für die Frau und ein Freibrief für den Täter. Viele Täter waren außerdem bereits polizeibekannt. Von der Polizei wird die Bedrohung, die von ihnen ausgeht, nicht ernst genug genommen. Wir beobachten in letzter Zeit sogar vermehrt den Trend, dass Frauen eine Wegweisung erhalten, weil sie zurückgeschlagen haben – eine regelrechte Täter-Opfer-Umkehr. Oft werden die Frauen auch falsch über ihre Möglichkeiten informiert. Kürzlich ging bei uns ein Anruf ein: Eine Frau wurde von ihrem Mann getreten und geschlagen, sie hatte Schmerzen am Oberkörper, am Bauch und an den Nieren. Die Polizei sagte ihr, dass sie keine Anzeige aufnehmen könne, da sie für die Verletzungen ein ärztliches Attest bräuchte. Das stimmt nicht. Schon ein paar Monate zuvor hatte es bei den beiden einen Polizeieinsatz gegeben, weil er sie – damals hochschwanger – gewürgt und anschließend aus der Wohnung geworfen hatte. Ich weiß, dass es auch bei Polizei und Justiz an Ressourcen fehlt, aber so etwas darf nicht passieren.

Es findet eine Verrohung im Diskurs statt. Von der verbalen Gewalt bis zur körperlichen Gewalt ist der Weg oft nicht mehr weit.
Maria Rösslhumer

ze.tt: Auch der mutmaßliche Täter des Frauenmordes vergangene Woche war polizeibekannt. Er soll Hassnachrichten an eine Grünenpolitikerin geschickt haben. Gibt es eine Verbindung zwischen Hass im Netz und Gewalt gegen Frauen?

Rösslhumer: Studien zufolge ist in Österreich jede dritte Frau von Hass im Internet betroffen. Die verharmlosende Haltung, die sich in der Politik zeigt, spiegelt sich natürlich auch im öffentlichen Leben wider. Es findet eine Verrohung im Diskurs statt. Von der verbalen Gewalt bis zur körperlichen Gewalt ist der Weg oft nicht mehr weit. Wenn es weniger Wertschätzung gegenüber Frauen gibt, werden auch mehr Frauen getötet – der jüngste Fall beweist, wie eng beides zusammenhängt. Es gibt bisher zu wenig Gesetze, die gegen Hass im Internet schützen. Anfang dieses Jahres ist ein neues Gesetz in Kraft getreten, das Betroffene besser schützen soll. Aber es ist noch zu früh, um dessen Wirkung zu beurteilen.

ze.tt: Die österreichische Frauenministerin Susanne Raab sagte am Wochenende, dass es einen Zufluchtsort für jede Frau gebe, die von Gewalt betroffen ist. Stimmt das denn? Haben Opferschutzorganisationen und Frauenhäuser genügend Kapazitäten?

Rösslhumer: Laut Istanbul-Konvention [Anm. d. R.: völkerrechtlicher Vertrag, in dem sich die EU-Länder der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen verpflichten] fehlen in Österreich ungefähr hundert Frauenhaus-Plätze. Wir brauchen viel mehr Personal in der Gewaltprävention und im Opferschutz. Wir fordern eine Joboffensive, es sollen mindestens 3.000 neue Personalstellen mehr geschaffen werden. Momentan kommen zum Beispiel auf eine Mitarbeiterin bei der Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie in Wien etwa 310 Betroffene pro Jahr – das ist zu viel. Auch in den Frauenhäusern brauchen wir viel mehr Personal. Für uns ist es eine sehr belastende Situation, weil wir natürlich keine Frau wegschicken und alleine lassen wollen. Ich mache bei der Dachorganisation der Autonomen Österreichischen Frauenhäuser vor allem telefonische und Onlineberatung, 20 bis 35 Frauen berate ich selbst pro Jahr. Immer öfter kommen Frauen allerdings auch direkt zu uns ins Büro – wir sind kein Frauenhaus, aber unsere Adresse ist nicht geheim. Wenn man in einem Nachtdienst alleine ist und eine Frau vor der Tür steht, die nicht zurück nach Hause kann, ist es schwierig, der Situation gerecht zu werden. Ich komme mit meiner Arbeit oft kaum hinterher, bei jeder Frau denke ich mir, was ich noch mehr machen könnte. Aber die Zeit fehlt. 

ze.tt: Wie könnten Opferschutz und Gewaltprävention besser gestaltet werden?

Rösslhumer: Es gibt ein Projekt zur Gewaltprävention aus Hamburg, das wir 2019 in einem Wiener Gemeindebezirk eingeführt haben und das ich sehr sinnvoll finde. Es heißt StoP - Stadtteile ohne Partnergewalt. Die Idee ist, die Zivilgesellschaft stärker einzubeziehen. Bewohner*innen einer Nachbarschaft werden dabei gezielt im Umgang mit häuslicher Gewalt geschult und sensibilisiert. Es werden Frauen- und Männerrunden eingerichtet, bei denen sich Nachbar*innen treffen und gemeinsam Methoden der Zivilcourage lernen. Dadurch soll das Gemeinschaftsgefühl gestärkt und das Problem enttabuisiert und an der Wurzel gepackt werden, damit es gar nicht erst zu Gewalttaten kommt. Noch ist es zu früh und in zu kleinem Rahmen, um aus dem Projekt Ergebnisse abzuleiten. Aber es wird in diesem Bezirk bisher sehr gut angenommen, 4.000 Menschen machen direkt oder indirekt dort mit. Wir wünschen uns das für ganz Österreich.