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Porträt

„Wir beschleunigen Entscheidungen“

Katja Bühler, wissenschaftliche Leiterin des VRVis

Die Mathematikerin und Informatikerin Katja Bühler ist seit Jahresbeginn neue wissenschaftliche Leiterin des Wiener Forschungszentrums für Virtual Reality und Visualisierung (VRVis). Was die gebürtige Deutsche an der Bildinformatik fasziniert, was sie nach einem Forschungsaufenthalt in Venezuela nach Wien führte und wie die am VRVis entwickelten Technologien Entscheidungen beschleunigen, erzählte sie bei einem Besuch von APA-Science.

Als langjährige Leiterin des Bereichs „Complex Systems“ und der Forschungsgruppe „Biomedical Image Informatics“ etablierte die Expertin neue Forschungsfelder wie biomedizinische Bildverarbeitung, Visual Computing for Life Sciences und Artificial Intelligence for Visual Computing am VRVis. Durch solch komplexe, interdisziplinäre Gefilde zu navigieren, erfordert eine solide wissenschaftliche Grundlage. Das Interesse und die Basis dafür wurden bereits in der Schule und durch ein förderndes familiäres Umfeld geschaffen, erklärt Bühler: „Ich bin in einem sehr bildungsnahen Haushalt aufgewachsen und habe von klein auf schon viel mitbekommen von der Welt. Dafür bin ich meinen Eltern sehr dankbar.“

Einen technikaffinen älteren Bruder zu haben und an ein Gymnasium zu gehen, das eng mit dem Kernforschungszentrum Karlsruhe (mittlerweile Forschungszentrum Karlsruhe; Anm.) verbunden war, begünstigten einen ganz natürlichen Zugang zur Technik. „Es war auch nie ein Thema, dass das nichts für Mädchen ist“, betont die 51-Jährige, die am Gymnasium auch schon früh mit – wenn auch aus heutiger Sicht „vorsintflutlichen“ – Computern in Berührung kam und in der achten Klasse einen Programmierkurs machte.

Von der Kunst, Mathematik zu studieren

Vorprogrammiert war der Weg zur Technik aber keineswegs. Der Schülerin, die Leistungskurse in Mathematik und Kunst belegt hatte, schwebte zunächst eher eine Zukunft als Kostümbildnerin oder ein Kunststudium vor. Nach dem Abitur lockte ein frisch gegründetes Museum in ihrer Heimatstadt, das Zentrum für Kunst und Medientechnologie. Da sich die dazu passende Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe aber erst in Gründung befand und noch nicht real existierte, „studiere ich halt solange Mathe“, so der Gedanke. Gesagt, getan, geblieben – und aus dem zweiten Standbein wurde das Fundament für die wissenschaftliche Karriere.

Aus dem Mathematikstudium am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) nahm Bühler „ein großes Maß an Abstraktionsvermögen und Genauigkeit“ für den weiteren Lebensweg mit. Einer eigentlich logischen Annahme über dieses Studium macht sie jedoch einen Strich durch die Rechnung – nämlich dass Rechnen im Zentrum der reinen Mathematik steht: „Jeder Physiker kann wahrscheinlich besser rechnen als die meisten Mathematiker.“ Die Vorteile liegen für die Expertin woanders: Man hinterfrage alles, lerne, sämtliche Eventualitäten zu beachten und Gedankenwege logisch zu argumentieren. Im abstrakten Denken und dem Modellieren von Problemen geschult, sei es bei einem praktischen Problem oft die Aufgabe des Mathematikers, den Lösungsweg auf ein methodisches Level zu bringen – „und das ist die große Kunst“.

Facts

VRVis ist laut eigenen Angaben Österreichs führende Forschungseinrichtung auf dem Gebiet des Visual Computing und betreibt mit rund 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gemeinsam mit Industrieunternehmen und Universitäten Forschungs- und Entwicklungsprojekte. Das VRVis ist ein Kompetenzzentrum, das im Rahmen des COMET-Programms durch BMK, BMDW, Land Steiermark, Steirische Wirtschaftsförderung – SFG und Wirtschaftsagentur Wien – Ein Fonds der Stadt Wien gefördert wird. Das Programm COMET wird durch die Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) abgewickelt.

Von Karlsruhe über Caracas...

Über einen venezolanischen Gastwissenschafter am KIT ergab sich im Anschluss ans Studium ein Forschungsaufenthalt an der Universidad Central de Venezuela mit dem Schwerpunkt Angewandte Geometrie. Bühler organisierte über den Deutschen Austauschdienst ein Stipendium und blieb ein Jahr lang in Caracas, wo sie gemeinsam mit eben diesem Professor ihre erste Publikation in Form eines internationalen Buchbeitrags schrieb.

 

Von dem Jahr in Südamerika nahm sie wertvolle Erfahrungen mit: „Caracas ist kein einfaches Pflaster und war schon damals eine der der gefährlichsten Städte weltweit. Man bekommt Lebenserfahrung, und für meine wissenschaftliche Arbeit habe ich den Respekt vor den Leuten, die unter solchen Umständen trotzdem Forschung machen – und gute Forschung –, mitgenommen.“

…nach Wien

Danach standen im Prinzip viele Möglichkeiten offen. Eine Stellenanzeige stellte die Weichen zurück nach Europa. Ende des Jahres 1997 passte eine freie Position als Universitätsassistentin an der Technischen Universität (TU) Wien exakt auf das Profil Bühlers. Dort lehrte sie mathematische Methoden der Computergrafik: „Es ging um verifiziertes Rechnen am Computer, an der Schnittstelle von Geometrie und Reliable Computing.“ An der TU promovierte sie zur Doktorin der Informatik und wechselte 2002 als Senior Researcher an ihre Wirkungsstätte bis heute – das zwei Jahre zuvor gegründete Kompetenzzentrum VRVis.

Nachdem sie anfänglich „den damals, im Vergleich zu Angeboten aus der Industrie, nicht am höchsten bezahlten, aber interessantesten Job“ am VRVis übernommen hatte, wurde ihr ein Jahr später bereits die Leitung der Biomedical Image Informatics-Gruppe übertragen – mit den Schwerpunkten Visual Computing, Bildverarbeitung, Künstliche Intelligenz (KI/AI) und Machine Learning, sowie Data Science für Big Data Driven Research. „Ich wurde ins kalte Wasser gestoßen und das war in dem Moment ein Karriereschritt für mich. Es war aber auch hart“, erinnert sich Bühler an diese Zeit.

Spezialisierung auf Bildinformatik

Am VRVis spezialisierte sich Bühler rasch auf die Bildinformatik, speziell für medizinische Anwendungen. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Frage, wie sich aus einem Bild verarbeitbare, strukturierte Informationen generieren lassen. Während ein Mensch auf den ersten Blick erkennen kann, ob auf einem Bild ein Hund oder eine Lunge zu sehen ist, muss man das Computern mit Hilfe von automatischen Methoden erst beibringen. Bei einem dreidimensionalen Bild wiederum, etwa aus einem Computertomographen, können die Daten durch Volumenrendering, einem Fachgebiet der 3D-Computergrafik, visualisiert werden.

In der Medizin unterstützen die Systeme vom VRVis sowohl den klinischen Alltag als auch die Forschung. Entsprechend werden unterschiedlichste Bilder verarbeitet, beispielsweise aus Computertomographie (CT), Magnetresonanztomographie (MRT) oder Mikroskopie. Klinischer Alltag, erklärt Bühler, bedeutet vor allem ein strenges Zeitregime im Radiologie-Department. Radiologen haben oft nur wenige Minuten Zeit, um ein Bild zu befunden. „Da zählt jede Sekunde und jede Hilfe, um diese Befundung schneller zu machen und zu unterstützen, damit sie sich auf die Dinge konzentrieren können, die wirklich wichtig sind.“ Genau an dieser Stelle kommen die VRVis-Experten ins Spiel, denn hier liege seit Jahren eines ihrer Hauptforschungsgebiete für die Bildverarbeitung.

Den Weg in die Zukunft weisen

Die neue Aufgabe bringt "noch mehr Arbeit" mit sich, glaubt Katja Bühler

Bild: APA (Wasserfaller)

Die Forscherin ist seit 2002 beim VRVis

Bild: APA (Wasserfaller)

Sie ist Expertin für biomedizinische Bildinformatik...

Bild: APA (Wasserfaller)

...und unterstützt Radiologen mit KI-Methoden dabei, ihre Befunde schneller durchführen zu können

Bild: APA (Wasserfaller)

Aber auch Neurowissenschafter profitieren von am VRVis entwickelten Methoden für die Hirnforschung

Bild: VRVis

Eines der wichtigsten Modellorganismen ist die Taufliege (Drosophila melanogaster), im Bild das Gehirn einer Larve

Bild: VRVis

Bühler will als neue wissenschaftliche Leiterin des Forschungszentrums die hauseigenen Forschungsgruppen und internationalen Partner noch stärker vernetzen...

Bild: VRVis

...und den Weg für zukunftsweisende Lösungen bereiten

Bild: APA (Wasserfaller)

„Machine Learning in allen Formen“

Anfänglich ist für die Aufbereitung von klassischen bildgebenden Methoden „Machine Learning in allen Formen“ zum Einsatz gekommen. Etwa lernten die Programme die Formen von Organen, um diese besser segmentieren zu können. „Seit ungefähr fünf Jahren haben wir uns immer stärker auf Künstliche Intelligenz beziehungsweise Deep Learning gestürzt. Mittlerweile nimmt das 95 Prozent aller Methoden ein. Fast alles, was wir in der Richtung machen, ist eigentlich Deep Learning basiert“, erklärt Bühler.

 

In klar umrissenen Umfeldern würden Deep Learning-Verfahren – ein tiefergehendes maschinelles Lernen mit Hilfe neuronaler Netze – gute Ergebnisse liefern. Wie gut die Maschinen lernen und ihre Analysen abliefern, liegt natürlich immer auch an Qualität und Umfang der Parameter. Trainiere man beispielsweise einen Klassifikationsalgorithmus für Mammografien in Asien nur mit Mammografiebildern europäischer Frauen, könnte es zu Fehleinschätzungen kommen, da asiatische Frauen ein dichteres Brustgewebe haben, gibt Bühler zu bedenken.

Nicht zuletzt wegen solcher Unsicherheiten setzt Bühler auf „Human Centered AI“, also einer Kooperation von Mensch und Computer, bei der die Kompetenzen klar verteilt sind: die Maschine arbeitet zu, der Mensch entscheidet. „Wir wollen einem Arzt die Möglichkeit geben zu überprüfen, ob das was von der Maschine entschieden wurde, denn stimmen könnte“, erklärt die Expertin. „Wir haben eine Methode entwickelt, die sehr zuverlässig zeigt, auf welcher Basis die Entscheidung getroffen wurde, indem wir die Teile im Bild markieren, die die Basis für die Entscheidung geliefert haben.“ Letztlich gehe es um das Schaffen von Vertrauen und Transparenz. Kein Mensch dürfe von einer KI vor vollendete Tatsachen gestellt werden: „Am Ende darf es immer nur eine Empfehlung sein und keine endgültige Entscheidung, denn die liegt ausschließlich beim Menschen.“

Helfen, das Gehirn zu verstehen

Eine weitere wichtige Säule am VRVis ist die Forschungskooperation mit Neurowissenschaftern geworden. Die Entwicklung hoch optimierter räumlicher Datenstrukturen durch Bühlers Forschungsgruppe hat die Basis für Systeme geschaffen, die nun Wissenschaftern aus Österreich, Deutschland, Frankreich und den USA in diesem Bereich bei ihrer Arbeit helfen. Zum Beispiel ermöglichen sie laut VRVis die sprichwörtliche „Nadel im Heuhaufen“ zu finden und in Kombination mit statistischen Methoden auf Basis von Bilddaten Zusammenhänge zwischen Genen und Neuronen oder ganze neuronale Netzwerke aus zehntausenden Datensätzen herauszufiltern.

„Wir haben 50.000 Bilder von Neuronen und Neuronengruppen im Gehirn der Drosophila koregistriert, sie in eine Datenbank gepackt und diese Bilder durchsuchbar gemacht“, nennt Bühler ein Beispiel für ein bereits seit zwölf Jahren laufendes Projekt in der Hirnforschung. Unter Koregistrierung versteht man vereinfacht gesagt Methoden, die Schwächen einzelner Neuroimaging-Verfahren bei räumlichen und zeitlichen Auflösungen zu kompensieren. „Wir haben räumliche Indexingmethoden, eine ganze Datenbank und webbasierte Tools entwickelt, mit denen man sich die Bilder anschauen, durchsuchen und analysieren kann.“

Durch diese Tools sei es möglich geworden, Suchvorgänge von Tagen auf Stunden oder sogar Minuten zu reduzieren, Experimente gezielter durchzuführen und damit Kosten und Zeit zu sparen. Die Plattform Brain* (gesprochen: Brain Star) wird mittlerweile für das Management und die Exploration von Daten larvaler und adulter Nervensysteme der Taufliege (Drosophila melanogaster) und des Zebrafisches, sowie Gehirnen von Mäusen und Menschen verwendet. Im Sinne von Open Science sind Teile des Systems online öffentlich verfügbar und ermöglichen anderen Forschern freien Zugang zu Datensammlungen von Drosophila und Zebrafisch.

 

"Alles was wir machen, beschleunigt Entscheidungen, macht Daten so zugänglich, dass man sie sehen, begreifen, schneller erfassen kann.“
Führungsposition mit „noch mehr Arbeit“

Entsprechend dieser Schwerpunkte hat Bühler ihr Forschungsteam in zwei Gruppen geteilt, die „Neuros“ und „Deep Learner“. Neben dem morgendlichen Lesen und Beantworten von E-Mails verbringt die Wissenschafterin mitunter mehrere Stunden täglich mit diversen Besprechungen und Meetings. Auch Papers wollen gelesen und Projekte gestartet werden – und nicht zuletzt soll auch noch Zeit für die Kontaktpflege mit Industriepartnern übrigbleiben. „Ich bin das Mädchen für alles. Wenn ich Glück habe, nehme ich mir einen Tag, und lese einfach nur Papers.“

Die Aufgaben werden nun, da sie die wissenschaftliche Leitung des Forschungszentrums übernommen hat, wohl nicht weniger: „Ich erwarte mir noch mehr Arbeit. Es wird für mich persönlich auch ein Prozess der Umstellung.“ In einem Kompetenzzentrum wie dem VRVis, das nach gewonnener Finanzierung immer bereits an die nächste Evaluierung denken muss, müsse man sich regelmäßig neu erfinden. „Das ist ein ständiger Prozess des Jagens nach Innovationen und innovativen Themen und nach guten Leuten, die das umsetzen können.“ Dies bringe etwa den Besuch von einschlägigen Konferenzen und die Vernetzung in den maßgeblichen Fachzirkeln an der Schnittstelle von Computergrafikern und Visualisierern, der Image Analysis und Deep Learning Community und Neurowissenschaftern mit sich.

Im Bereich der Humanressourcen sei es nicht nur wichtig, „gute Leute zu finden und zu erkennen“, sondern auch zu fördern. Das gelte speziell für Frauen, für die sich Bühler besonders einsetzt. In der traditionell männerdominierten Domäne der Technik ändere sich aber auch langsam etwas: „Die Frauen werden selbstbewusster, was gut ist.“ Dennoch würden sich Frauen oft immer noch kleiner machen, als sie sind – oder sie seien einfach nur „sehr ehrlich“. Für ihr Engagement wurde Bühler im März 2020 mit dem fünften Frauenpreis der TU Wien ausgezeichnet.

Entscheidungsbeschleunigung

Ihre Entscheidung, in der Informatik in Richtung Medizin und nicht etwa in Richtung CAD (Computer-aided design) zu gehen, war davon getrieben, „etwas Sinnvolles“ zu tun. Dieser Sinn liege oft ganz einfach in der Zeitersparnis, die Computerprogramme für das medizinische Personal und für die Forschung bringen. Zwar könne die Forschung am VRVis auch für sich alleine stehen, so die Wissenschafterin, „aber was wir machen, ist immer ein Hilfsmittel für andere. Es soll die Workflows beschleunigen, den Leuten helfen, schneller zu einer Entscheidung zu kommen. Das gilt nicht nur für meine Gruppe, sondern für das ganze Haus. Alles was wir machen, beschleunigt Entscheidungen, macht Daten so zugänglich, dass man sie sehen, begreifen, schneller erfassen kann.“

Seit gut zwei Jahrzehnten ist Bühler nun beruflich wie privat mit Österreich verbunden. Mit dem Vater ihres Sohnes, einem Niederösterreicher, lebt sie „in wilder Ehe“ im 7. Bezirk in Wien. In diese „wunderschöne Stadt“ ist sie sehr enthusiastisch gekommen und immer noch gerne da – obwohl sie schon nach drei Monaten „wieder abhauen“ wollte. „Dass ich Deutsche bin, war damals permanent Thema und hat mir den Anfang in Wien nicht leicht gemacht.“

Katja Bühler ist trotz Anlaufschwierigkeiten in ihrer Wahlheimat angekommen. Die „leidenschaftliche Köchin“ genießt vor allem die Landschaft und das gute Essen. Die Kalorien verbrennt sie am liebsten beim Windsurfen – verletzungsbedingt mittlerweile etwas heruntergeschraubt -, beim Katamaran segeln, beim Wandern und Skifahren.

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